Obwohl immer mehr Medienschaffende verantwortungsvoll über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung berichten, gibt es auch immer wieder voyeuristische und sensationsheischende Beiträge, die die Betroffenen von Gewalt erneut traumatisieren können.  Deshalb wollen wir hier Journalist*innen Empfehlungen für eine sensible mediale Berichterstattung zu häuslicher, sexualisierter und generell geschlechtsspezifischer Gewalt geben.

Der Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF) hat im Dezember 2014 die sehr gute Broschüre "Verantwortungsvolle Berichterstattung für ein gewaltfreies Leben. Anregungen zur medialen Prävention von Gewalt an Frauen und ihren Kindern" herausgegeben, an der der österreichische Presserat mitgewirkt hat. Im Artikel "Geschlechtsbasierte Gewalt und die Rolle von Medien" sprechen die Autorinnen Brigitte Geiger, Birgit Wolf und Silvia Samhaber Empfehlungen für verantwortungsvolle Berichterstattung aus, denen wir uns anschließen:

Differenziertes Bild: Vermitteln Sie ein umfassendes und differenziertes Bild von häuslicher Gewalt an Frauen als gesellschaftliches (nicht individuelles Problem) und zeigen Sie Ausmaß und Bandbreite von geschlechtsbasierter Gewalt auf.

Hinterfragen Sie journalistische Auswahlentscheidungen und erweitern Sie das Spektrum der Gewalttaten, über die berichtet wird. Gerade weniger spektakuläre Fälle bieten Betroffenen Anknüpfungspunkte. Berichte über die verschiedenen Gewaltformen und -dynamiken insbesondere der psychischen Gewalt helfen, Gewaltbeziehungen als solche zu identifizieren.

Hintergründe: Behandeln Sie gesellschaftliche Hintergründe von Männergewalt wie traditionelle Männlichkeitsbilder und die historisch gewachsene Ungleichstellung von Männern und Frauen, die bis heute den Boden für Gewalt bietet.

Gewalt betrifft alle: Machen Sie deutlich, dass geschlechtsbasierte häusliche Gewalt in allen Bevölkerungsgruppen und sozialen Schichten vorkommt und vermeiden Sie Hinweise auf Herkunft oder Religion von Beteiligten, wenn diese im Kontext der Geschichte nicht relevant sind.

Lücken schließen: Recherchieren und berichten Sie auch über marginaliserte Gruppen, wie zum Beispiel Gewalt an Frauen im Pflegebereich, an älteren Frauen und Frauen mit besonderen Bedürfnissen (Gehörlosigkeit, Lernschwierigkeiten, körperliche Behinderungen etc.). Greifen Sie auch marginalisierte Themen auf (z.B. teilweise prekäre finanzielle Situation von Frauenhäusern oder Hilfseinrichtungen, fehlende Anerkennung von geschlechtsbasierter Gewalt vor Gericht, u.ä.m.).

Vorurteile nicht verstärken: Reduzieren Sie Gewalt in Familien mit Migrationshintergrund nicht auf kulturelle oder ethnische Faktoren, sondern thematisieren Sie strukturelle Hintergründe durch ungleiche Geschlechterverhältnisse und spezifische Belastungen durch Mehrfachdiskriminierung.

Zusatzinformationen: Erschließen Sie sich zusätzliche Informationsquellen neben Polizei und Justiz wie z.B. Frauenhäuser und Anti-Gewalt-Expert*innen aus der Forschung und Praxis, thematisieren Sie Gewalt an Frauen in unterschiedlichen Ressorts und unter verschiedenen Aspekten.

Kontexte: Betten Sie auch tagesaktuelle Fallberichte in einen größeren gesellschaftlichen Kontext ein, diskutieren Sie Hintergründe und Folgen, die Wirksamkeit von Gesetzen oder die Vorgangsweise von Institutionen und weisen Sie auf Hilfsangebote hin.

Begriffe: Benennen Sie Gewalt als Gewalt und überprüfen Sie Begriffe und Formulierungen auf mögliche unerwünschte Effekte wie Verharmlosung und Bagatellisierung. Unterlassen Sie insbesondere Formulierungen, die eine (Teil-)Schuldzuweisung an Betroffene auch nur andeuten könnten, um so sekundären Viktimisierungen entgegenzuwirken und Betroffene in ihrem Recht auf ein gewaltfreies Leben zu unterstützen.

Betroffene: Behandeln Sie Betroffene mit Respekt und unterstützen Sie durch realitätsgerechte Darstellungen. Stellen Sie sie nicht nur passiv, verwundet, ohnmächtig dar, sondern in ihrem Kontext. Frauen und ihre Kinder als Betroffene von Gewalt bewältigen Alltagssituationen unter ganz widrigen Umständen.

Vorbilder, Survivor-Frauen: Zeigen Sie auch positive Beispiele von Strategien zur Gegenwehr oder erfolgreiche Interventionen z.B. von Verwandten oder Bekannten oder wo Männer ihr gewalttätiges Verhalten überwunden haben. Survivor-Frauen oder "Überlebende", die den Weg aus einer Gewaltbeziehung geschafft haben, können als Rollenvorbilder betroffene Frauen motivieren, ermutigen und bestärken.

Verantwortung: Schließen Sie gleichstellungs- und opferorientierte Jungen- und Männerarbeit sowie den Anteil der männlichen Bevölkerung mit ein. Klären Sie über politische und gesellschaftliche Verantwortung auf (zum Beispiel im Zusammenhang mit der Istanbul-Konvention, Budgets und Maßnahmen sowie Möglichkeiten, wie das soziale Umfeld unterstützen kann).

Perspektiven: Berichten Sie auch über das Leben nach einer Gewaltbeziehung, über auf Gleichstellung basierende Beziehungen, über Perspektiven und die Vision eines Lebens frei von Gewalt.

Die vollständige Broschüre können Sie hier als PDF kostenfrei downloaden.


Zusätzlich möchten wir Sie auf die bereits 2011 erschienene Broschüre "Sexualisierte Gewalt in den Medien. Anregungen zur Berichterstattung über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" hinweisen, die von der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung e.V. (DGfPI e.V.) veröffentlicht wurde. Anliegen der Broschüre ist es, Journalist*inen zu einer sensiblen und Grenzen achtenden Berichterstattung und kritischer Reflexion anzuregen, um sensationsheischende, sexualisierende oder pathologisierende Beiträge zu verhinden.


Für journalistische Nachfragen, Recherchen und Interviews zu häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt sowie zu Sexarbeit stehen Pressevertreter*innen in jeder Einrichtung von STARK MACHEN e.V. kompetente Ansprechpartner*innen gern zur Verfügung. Sprechen Sie uns an!